Von Thomas Kieslinger
Im Frühjahr des Jahres 1904 schreibt der Historiker Karl-Heinrich Schäfer, der 1903 bis 1914 Assistent am Römischen Institut der Görres-Gesellschaft war, einen bewegenden Brief aus Rom an seine Mutter in Deutschland. Die Zeilen sind reich an Eindrücken und voller Andacht – und sie eröffnen dem Leser ein ebenso persönliches wie kenntnisreiches Fenster in die Liturgie der Karwoche in der Ewigen Stadt.

Der Brief ist mehr als eine bloße Reisebeschreibung: Er ist das Zeugnis eines Mannes, der seine Weltanschauung grundlegend verändert hat. Schäfer war ursprünglich evangelisch, studierte Theologie in Marburg und Greifswald, ehe er 1902 – nach langem innerem Ringen und auch aufgrund seiner historischen Studien – zur römisch-katholischen Kirche konvertierte. Der Brief an seine Mutter stammt also aus der ersten Zeit seiner bewussten, gelebten katholischen Frömmigkeit. Diese biografische Konstellation verleiht dem Text eine besonders reizvolle Tiefe: Zwischen dem Erstaunen des Neubekehrten und der gelehrten Neugier des Historikers entfaltet sich ein schillernder Blick auf das katholische Rom um 1900.
Schäfers Brief ist ein liebevoll strukturierter Erlebnisbericht aus der Karwoche, jener „langen“ oder „großen“ Woche, wie er selbst schreibt. Sein Anliegen ist nicht nur, seiner Mutter seine Ergriffenheit mitzuteilen, sondern auch, sie – ganz behutsam – an den Reichtum katholischer Liturgie heranzuführen. Der Brief ist fast katechetisch: Er erklärt Abläufe, Bräuche, Psalmen und Lesungen mit einer Mischung aus sachlichem Ernst und poetischer Bewunderung.
Schäfer beschreibt die römische Liturgie nicht nur als Beobachter, sondern als Beteiligter: Er hört die Palmsonntagsmesse, nimmt an den Lamentationen teil, besucht am Gründonnerstag mehrere Kirchen und verweilt bei den Heiligen Gräbern, deren Besuch als Pilgerpflicht gilt.
Besonders eindrucksvoll sind seine Beschreibungen des Hochamts am Gründonnerstag, das mit einer Fülle symbolischer Handlungen verbunden ist: die doppelten Hostien für Donnerstag und Karfreitag, das Tragen der Hostie zum Heiligen Grab, das Verstummen der Glocken, das letzte Orgelspiel – all das wird von Schäfer in einer feinfühligen Mischung aus theologischer Deutung und persönlicher Ergriffenheit dargestellt.
Ein emotionaler Höhepunkt des Briefes ist Schäfers Schilderung der Lamentationen – der Klagelieder des Propheten Jeremia. Ihre Wirkung auf ihn ist tief: Der Wechsel zwischen Solo- und Chorgesang, die hebräischen Buchstaben als liturgische Struktur, die weinende Stimme in der Dunkelheit – all das berührt ihn zutiefst. Er schreibt: „Es ist einem manchmal, als ob man die heilige Maria selbst die Passion Jesu beweinen hörte.“ Bemerkenswerterweise erwähnt Schäfer die Anwesenheit jüdischer Zuhörer in St. Peter.
Die geschilderten Bräuche sind geprägt von der römischen Prachtentfaltung – aber Schäfer bleibt nicht bei der äußeren Kulisse stehen. Er macht deutlich, dass die Stadt selbst zu einem riesigen liturgischen Raum wird. Die Straßen füllen sich mit Pilgern aus aller Welt, mehr als 100.000 Fremde drängen in die Kirchen, die Heiligen Gräber werden mit Blumen, Kerzen und Stoffen geschmückt, und selbst Kinder durchstreifen unter Anleitung ihrer Lehrer dutzende Gotteshäuser.
Karl Heinrich Schäfer gelingt es in seinem Brief, das katholische Rom der Karwoche nicht nur zu beschreiben, sondern fühlbar zu machen: mit Klang, Licht, Raum und Gebet. Seine Sprache ist bildhaft, manchmal schwärmerisch, immer lehrreich. Dass er seiner evangelischen Mutter schreibt, verleiht dem Ganzen eine besonders zärtliche Note: Er ist nicht belehrend, sondern einladend – ein Pilger, der das Licht, das ihm aufgegangen ist, mit seinen Liebsten teilen möchte.

Auszug aus Schäfers Brief an seine Mutter (Pfarrarchiv St. Peter und Paul Potsdam, 1015, Nr. 27)

Rom, Via Ripetta 210, Gründonnerstag 1904
Liebe Mutter und Schwester!
[...]
Wenn wir früher davon geredet haben, daß ja Jerusalem zur Osterzeit mit Pilgern angefüllt zu sein pflegte in den Tagen des Heilands, so trägt sich jetzt hier in Rom dasselbe Schauspiel vielleicht in noch größerem Maße zu; es sind über 100 000 Fremde hier u. alle die zahlreichen Herbergen überfüllt. Aber was für Schätze findet der fromme Pilger gerade in der Charwoche und Osterzeit für seine Seele in Rom, der Stadt der beiden Apostelfürsten, der Stadt des Nachfolgers Petri. Meine Feder vermag Euch nicht im Entferntesten die Eindrücke wiederzugeben, welche nun hier angehängt. Nur schreibe ich den lebhaften Wunsch, daß Ihr auch noch einmal das Glück habt, um diese Zeit in der Ewigen Stadt zu weilen. Dann werdet Ihr verstehen, was in Wahrheit katholisch heißt. Ich möchte Euch gern einen Tag der Charwoche schildern, ich weiß nicht recht welchen ich herausgreifen soll. Diese Woche heißt auch die lange oder große Woche, ich verstehe jetzt, was der Name bedeutet. Am Palmsonntag wurden in jeder Kirche unter Psalmensingen die Palmen geweiht und vor der h. Messe unter die Gläubigen verteilt. Dann beginnt die Messe, in dieser wird die ganze Leidensgeschichte nach dem Evangelisten Markus verlesen, in den nächsten 3 Tagen bis Mittwoch wird jedesmal dieselbe Geschichte nach einem anderen Evangelisten wiederholt. Dabei ist immer in einer der Hauptkirchen Roms, ein an jedem Tag der Fastenzeit, ein besonders feierlicher Gottesdienst, welchen jedesmal ein Kardinal selbst abhält; zahlreiche Reliquien werden dann dem Volke gezeigt. Von Mittwochnachmittag an beginnt die feierlichste Periode der Charwoche: Am Abend werden jedesmal 2-3 Stunden lang feierliche Klagelieder und Psalmen von den Geistlichen gesungen. Gestern war ich in der Kirche “Groß-Marien” und heute in S. Peter bei den Gesängen anwesend. Weil nun das letzte im Gedächtnis immer besser haftet, will ich Euch die Feier des Grünen Donnerstags in Rom näher beschreiben. Im römischen Brevier, welches alle Gebete und Cäremonien für jeden Tag angiebt und von dem ich eine besondere Teilausgabe für die Charwoche besitze, umfaßt der Gründonnerstag allein 30 enggedruckte Seiten. Die Feier beginnt schon am Abend vorher, ich war in der ältesten Marienkirche Roms. St. Maria Maggiore oder zu deutsch Großmarien, einem sehr geräumigen Gotteshaus, welches mit seinen zahlreichen Mosaiken (Steingemälden) ungefähr 1500 Jahre alt ist und zu den 7 Hauptkirchen Roms zählt. Daran sind noch die alten Stiftsherrn, wie ich sie in meinem Buche beschrieben habe, in der Zahl 2 x 12 und singen und beten jeden Tag gemeinschaftlich wie im Mittelalter. Gestern gegen 5 – man rechnet hier immer nach dem Ave Maria, welches bei Sonnenuntergang in der ganzen Stadt von den mehr als 500 Kirchen geläutet oder wenigstens angeschlagen wird – hatte sich schon eine große Menschenmenge in der Kirche eingefunden, um dem Gottesdienst beizuwohnen. Doch [sic! Lies “Das”] Volk zeigt dabei oft eine kindliche Frömmigkeit - die Stiftsherren beteten 3 x 3 Psalmen, welche als Weißsagungen auf die Passion Christi gedeutet werden (Psalmen 68-70 in Luthers Bibelübersetzung Psl. 69-71; 71-74; Ps. 74-76); dazwischendurch wird eine alte Erklärung dieser Psalmen durch den h. Augustin von einem der Geistlichen verlesen und mehrere kurze Gebete leise gesprochen. Das ergreifendste aber sind die Lamentationen des Propheten Jeremias, welche von einem Chor und einzelnen Stimmen nach den Gebeten gesungen werden. Ich habe sie auch heute Abend in S. Peter gehört, wo sich ungefähr 30 000 Menschen, meist Ausländer versammelt hatten, um diese Töne zu vernehmen. Es wurden soviel Klagen gesungen als Buchstaben in der hebräischen Sprache sind; diese selbst werden vor jeder Klage hebräisch vorgetragen; daher kommt es, daß auch Juden den Lamentationen beiwohnen und zwar, wie ich selbst gesehen zu haben glaube, mit großer Andacht. Das übrige wird natürlich alles lateinisch gesungen. Ich kann Euch den tiefen Eindruck, welchen diese Klagen hervorrufen, nicht annährend schildern. Es ist einem manchmal, als ob man die h. Maria selbst die Passion und Jesu beweinen hörte und die Apostel ihr antworteten; so zittert klagend eine einzelne Stimme durch die Kirche in einem Tonfall, der das härteste Herz erweichen kann und dann setzt der ganze Chor wieder ein. Wer eigentlich die Kompositionen gemacht hat, weiß ich nicht, sie scheinen uralt zu sein. Nach jedem Psalm werden auf dem großen Leuchter zwei Kerzen ausgelöscht, zuletzt bleibt nur noch eine, welche den Heiland versinnbildlicht, dann wird auch sie heruntergenommen und in der dunklen Kirche verlassen die Chorherren mit lautem ½ Minute dauernden Geräusche ihre Plätze, das bedeutet der Augenblick wo Jesus verraten und gefangen genommen wurde.
Beim Hochamt am Gründonnerstag werden ausnahmsweise 2 Hostien geweiht, eine für die Gründonnerstagsmesse selbst, die andere allein für den Charfeitag, welcher der einzige Tag ist, an welchem kein Opfer in der Katholischen Kirche stattfindet, weil sich an diesem Tage Christus selbst für uns geopfert hat. Nach dem Hochamt, bei dessen Gloria in excelsis zum letzten Male die Orgel spielt und die Glocken erklingen, wird jene geweihte Hostie in Prozession zum h. Grabe getragen, wozu man in allen Katholischen Kirchen eine Nebenkapelle herrichtet. Ich habe heute mehrere solcher besucht; jeder Katholik soll mindestens 5 mal das h. Grabe besuchen und in Rom sind wie in Köln 5 Kirchen von jedem Gläubigen aufzusuchen und vor dem Grabe zu beten. Diese h. Gräber sind mit großer Pracht und ausgesuchtem Schmuck bereitet. Unzählige Kerzen flimmern und alle Blumenpracht vereint sich, um dem h. Leichnam die schuldige Ehre zu erweisen. Es herrscht dabei nach den verschiedenen Hauptkirchen bis tief in die Nacht hinein eine fröhliche Völkerwanderung. Das älteste Junge meiner Hausleute erzählte am Abend, daß er 15 Kirchen mit dem Professor aufgesucht habe. Gegen Abend des Gründonnerstags [Anmerkung: (1) Ich schreibe dieses Blatt am Charfreitag Nachmittag, da ich gestern Abend nicht fertig geworden.] ging ich nach S. Peter, wo die Vorfeier des Charfreitag begann. Ich sagte schon, daß ungefähr 30 000 Personen sich in diesem größten aller Gotteshäuser versammelt hatten. Es war aber immer noch reichlich Platz für noch einmal soviel. Denn S. Peter ist doppelt so groß als der Kölner Dom und ohne Bänke und Stühle, deshalb können sich an 100 000 Menschen darin versammeln. Nicht mehr, das sind soviel als in ganz Kassel wohnen. Dort fanden ähnliche Cäremonien und Gesänge statt, wie Tags zuvor in Groß Marien, nur daß der Gesang noch ausgezeichneter und die Gebräuche noch feierlicher waren, es dauerte 2 Stunden, dann wurde die Waschung und Salbung des Hochaltars vorgenommen als Symbol der Salbung Christi, es beteiligten sich alle Geistlichen von S. Peter daran, das sind ungefähr 60 Herren. Nachher hörte ich noch eine Predigt in unsrer dem S. Rochus1 geweihten Pfarrkirche, es waren eigentlich 3 Predigten hintereinander, der betreffende Geistliche sprach von einer mit Grün behangenen Tribüne, die in der Kirche für die Charwoche errichtet ist. Grün bedeutet hier die Trauer. Es wurde über das Leiden Jesu von Herodes Urteil bis zum Tode Jesu gesprochen. Als er an das Sterben des Heilands kam, brachten eine Anzahl von römischen Bürgern in feierlichem Singen das Crucifix zum Prediger, welcher es mit herzergreifenden Worten in die Höhe hielt und sagte, daß so Christus in Wirklichkeit am Kreuze gehangen habe um unserer Sünden willen. Es blieb kein Auge ohne Tränen, alle knieten nieder, während der Geistliche weiter betend sprach und uns mit dem Kreuz segnete. Heute am Charfreitag Morgen war ich wieder in S. Peter, wo die berühmten uralten Klagegesänge Jesu an sein Voll vorgetragen wurden. Die hättet ihr hören sollen! - der Refrain ist immer “mein Volk, was habe ich dir gethan und womit habe ich dich gekränkt? Antworte mir! [Unleserlich] stellt Jesus seine Wohltathten den Übelthaten seines Volkes gegenüber. Z.B. ich habe dich aus Ägypten befreit und du hast mich in die Hände der Hohepriester verraten; ich habe vor dir das rote Meer geöffnet und du hast meine Seite mit der Lanze geöffnet zu rotem Blute; ich ging vor die her in der Wolkensäule und du hast mich vor Pilatus geschleppt; ich habe dich durch die Wüste geleitet und du hast mich mit Geißeln gestäupt, ich habe dich mit dem Lebenswasser aus dem Felsen getränkt und du hast mir Galle und Essig gegeben, ich habe dich zu einem großen Volke erhöht und du hast mich erhöht am Kreuzesholz u. f.f. Aber ich kann Euch nicht alles schildern, man muß es selbst hören. Gott sei Dank, daß es mit vergönnt ist in Rom zu sein und das alles zu erleben.
Von Deutschland sind eine Menge hervorragender Katholiken hier kürzlich angekommen, um den h. Vater zu begrüßen. Man hört überall deutsch reden ähnlich wie im Mittelalter, wo auch soviele Deutsche hier waren. Aber auch von anderen Völkern sind Vertreter hier. Manchmal sieht man noch Pilger in der Stadt wie im Mittelalter, die einen weiten Weg im Pilgerkleid zu Fuß nach den Apostelgräbern unternommen haben. So sah ich gestern einen russischen Pilger aus der Gegend der Wolga, der offenbar den ganzen Weg zu Fuß gemacht hatte. Welche Andacht und Ehrfurcht bezeugte der den h. Stätten, so was hatte ich noch nicht gesehen. Er war gekleidet, wie man es auf mittelalterlichen Bildern sieht. Aber nun genug, nochmals vielen Dank für Eure Zeilen und herzlichen Segenswunsch zum h. Feste in stetem
Gedenken
Euer tr. Sohn und
Bruder
K Heinrich