Mit Beginn des Jahres 1881 wird der von Kardinal Joseph Hergenröther eingerichtete Archivsaal dem gelehrten Publikum freigegeben. Hergenröther war gefeierter Kirchenhistoriker in Würzburg gewesen und zur Freude der deutschen Historiker und der Görres-Gesellschaft, zu deren Ehrenpräsidium er gehörte, von Papst Leo XIII. nach Rom berufen worden. Genau aus dieser Zeit stammt aus seiner Feder ein vertrauliches, detailliertes Schreiben an interessierte Kreise der Görres-Gesellschaft, in dem er seine organisatorischen Schwierigkeiten bei der Einrichtung des neuen „Studirsaals“ beschreibt, den schweren Stand der Deutschen im Vatikan, das Wohlwollen Leos XIII. und das Treiben des päpstlichen Hofes. Nichts Neues unter der Sonne, wenn man hört, dass auch schon damals Dokumente vom Schreibtisch des Papstes verschwinden konnten:

„Zwar habe ich bereits Ende November 1879 einen von mir ausgearbeiteten, mit dem Archivpersonal durchberathenen Organisationsplan der päpstlichen Archive Sr. Heiligkeit unterbreitet, aber die Approbation bis heute noch nicht erlangt. Es hatten sich viele äußere, auch bauliche Mißstände herausgestellt; der heilige Vater wollte selbst die Lokalitäten in Augenschein nehmen. Das geschah am 26. Mai 1880.

Vier hübsche Säle mit Deckgemälden [!] schließen sich an die vatic[anische] Bibliothek an; in ihnen werden die päpstlichen Regesten verwahrt; das Archiv war bisher nur von dieser Seite aus geöffnet. Aus dem vierten Saal gelangt man auf einer schmalen Wendeltreppe, die ehedem so finster war, daß ich den hl. Vater V[or-]M[ittag] 11 Uhr mit Fackelschein hier das Geleite geben lassen mußte, sowohl in höhere Gemächer, die meistens die Nuntiaturberichte enthalten, als in tiefer liegende und unter letzteren in die Räume, in denen das früher separirt gewesene Archiv der Engelsburg, das 1798 bei der französischen Invasion Monsignore Marini hieher transportiren ließ, seine Stelle gefunden hat.

Dieses Erdgeschoß war feucht, so daß einige Codices und Fascikel bedeutenden Schaden gelitten hatten. P. Theiner, der das Archiv nur für sich ausbeutete und für Ordnung gar keinen Sinn hatte, hielt sich immer nur kurze Zeit im Archiv auf, um das ihm Passende auszusuchen und es in seine Privatwohnung zu tragen, wo er mit seinen Bediensteten arbeitete; er wohnte eben auch im Vatikan.

Aus Anlaß des päpstlichen Besuches wurden nun die nöthigsten durch Architecten und andere Fachmänner zu besorgenden Arbeiten zusammengestellt und in einem an die frühere Vorlage erinnernden Memoriale des Sotto-Archivista Prof. Balan dem Papste vorgelegt. Im Sommer wurden von Technikern die meisten dieser Arbeiten ausgeführt, wobei viele Gemächer vom Archivpersonal ausgeräumt und deren Inhalt anderweitig deponirt werden mußte.

Seit dec. 1880 ist der neue Studirsaal am Effekt, der am untersten Ende des Archivs liegt, dem Eingang zu den vaticanischen Gärten vis-à-vis; der alte Eingang vom Saale Sixtusʼ IV. her dient jetzt nur noch für die Bediensteten des Archivs bezüglich des Verkehrs mit der Bibliothek. Es mußte nun ein weiterer Diener angenommen werden, der hier seinen Platz hat. Außer dem Sotto-Archivista, dem sehr thätigen Professor Balan hatte ich nur 3 Beamte, alle Geistliche, die nur schwer die viele Arbeit bewältigen konnten, da immer Recherchen von päpstlichen Behörden, von Gesandtschaften, von distinguirten Persönlichkeiten zu erledigen sind.

Für die Ordnung vieler zerstreuter Urkunden, für Fortsetzung der Kataloge etc. hatte nur wenig geschehen können. Seine Heiligkeit gewährte mir drei neue Beamte und entschied, daß sich sowohl Laien als Geistliche um solche Stellen bewerben dürften, über deren Würdigkeit eine Konkursprüfung entscheiden sollte. Ich setzte eine Prüfungskommission aus Beamten des Archivs und der Bibliothek ein, welche die 11 Concurrenten aus Geschichte, Paläographie und Sprachkenntnissen zu prüfen hatten. Das mir überbrachte Resultat legte ich dem hl. Vater vor.

Die drei neu Ernannten sind junge Männer weltlichen Standes. Leider ist die Besoldung so gering, daß fast alle Bediensteten noch sonst eine Beschäftigung oder Stelle suchen müssen. Aber die finanzielle Lage des heiligen Stuhles läßt das nicht vermeiden. Die neuen 3 Bediensteten treten mit 1. Februar in ihr Amt ein. Ich werde nun sehen, wie ich mit den 6 Unterbeamten zurecht komme und neue Erfahrungen sammeln.

Mein Reorganisationsplan v. Nov. 1879 scheint aus dem Kabinet Sr. Heiligkeit verschwunden zu sein, und wenn es sich wieder um einen solchen [Diebstahl; S.H.] handelt, so wird, da hier alles von Commissionen behandelt wird, erst eine vom Papste ernannte Commission darüber zu Gericht sitzen. Einstweilen müssen freilich die alten Regeln noch gehandhabt werden, so weit sie nicht durch die vom Papste mir vivae vocis oraculo gemachten Zugeständnisse abrogirt sind.

Meine Stellung ist sehr schwierig; auch der päpstliche Hof bleibt ein Hof. Da die Piemontesen jetzt zu sehr das Deutsche nachäffen, ist in kirchlichen Kreisen eine Reaction dagegen entstanden; das Archivpersonal empfing mich schon mit Mißtrauen, fürchteten, ich würde alles deutsch machen, nur Deutsche berufen; an Gerüchten, die das Vertrauen des Papstes zu mir schwächen sollten, fehlte es nicht.

In früheren Zeiten und in anderer Stellung hätte ich mich sehr gefreut, solche Schätze, wie das Archiv sie bietet, um mich zu haben; jetzt bin ich fast nur da, um für andere zu sorgen, und meine eigenen Arbeiten bleiben liegen. Dazu bin ich in der Congregatio Concilii mit zahlreichen Proceßsachen, mit endlosen Allegationen und Deductionen der Advocaten überhäuft. [...] Ich hoffe mit der Zeit noch weitere Fortschritte durchzuführen, obschon manche Herren am Hofe das ungern sehen.

Der Papst ist einsichtsvoll und Freund der Wissenschaft; nur studirt er selbst zu sehr und geht lieber auf Behandlung principieller Fragen als auf organisatorische Arbeiten ein“ .

Dies und vieles mehr nachzulesen zum 150. Jahrgedächtnis der Gründung der Görres-Gesellschaft in S. Heid, Wissenschaft im Vatikan. Das Römische Institut der Görres-Gesellschaft bis zum Zweiten Weltkrieg.