Wir hatten schon auf das monumentale Werk von Mons. Lucio Bonora über die Porträts Pius' X. hingewiesen, der sich wie kaum ein anderer Papst abpinseln ließ. Das Buch "Omaggio a Pio X" ist im Buchhandel schwer erhältlich, aber ohne weiteres in der Libreria La Leoniana.

Das Buch ist keineswegs vollständig, da es weitgehend die italienischen Porträts erfasst. Es buhlten natürlich auch Nichtitaliener um die Gunst, seine Heiligkeit porträtieren zu dürfen. Der bekannte Paul Maria Baumgarten hat minutiös eine Audienz bei Pius X. festgehalten, bei der ebenso ein Maler dabei war. Diesmal war es nicht der Maler Becker aus Berlin, sondern Joseph Reich aus Wien, Vizepräsident in der Kunst-Sektion der Leo-Gesellschaft (sozusagen der österreichischen Görres-Gesellschaft). Baumgarten ging zusammen mit dem Rektor des Campo Santo Teutonico Anton de Waal und Reich am 8. Februar 1904 zu Pius X:

„Im Januar 1904 hatte Monsignor de Waal, ebenso wie ich, eine Anzahl Geschenke für den Papst zugesandt erhalten. Der Einfachheit halber meldeten wir uns gemeinschaftlich zu einer päpstlichen Audienz beim Obersthofmeister Seiner Heiligkeit, Monsignor Gaetano Bisleti. Während wir auf die Einladung warteten, vor dem Heiligen Vater zu erscheinen, war der Maler Joseph Reich aus Wien, Vicepräsident in der Kunst-Section der Leo-Gesellschaft, mit vorzüglichen Empfehlungen nach Rom gekommen, um ein Bild Seiner Heiligkeit zu malen. Auf meinen Vorschlag ordnete der Obersthofmeister die ganze Angelegenheit dahin, dass der Maler Reich an seinem Bilde malen könne, während Monsignor de Waal und ich dem Papste unsere Geschenke überreichen würden. Wir wurden also alle Drei gemeinschaftlich befohlen.
Am Montag, den 8. Februar 1904 wurden wir kurz vor 11 Uhr zum Heiligen Vater hineingeführt, nachdem wir vorher in dem an das grosse Arbeitszimmer des Papstes anstossenden Flur alle Bücher, Bilder und die Staffelei niedergelegt hatten. Wir wurden im zweiten Zimmer, von der geheimen Anticamera aus gerechnet, empfangen, dort, wo zu Leos Zeiten der sogenannte kleine Thronsaal gewesen war. Damals enthielt der mit Tapeten aus rothem Seidendamast ausgestattete Raum ausser einer Anzahl Stühle und Sessel, die an den Wänden standen, an der dem Fenster gegenüber liegenden Schmalwand einen prächtigen Tisch aus der Zeit Ludwigs XV, auf dem ein kostbarer kleiner Tischsecretair mit zahlreichen kleinen Schubladen stand. Dieses Möbel ist von feinster Arbeit und erheblichem Werthe.
Unmittelbar nachdem wir den Papst in der ehrfürchtigsten Weise begrüsst hatten, lud er uns zum Sitzen ein und der Maler hatte dabei das Glück, an seine linke Seite zu kommen. Der Papst zeigte ihm so jene Profillinie, die Reich seiner Vorarbeit auf der grossen Leinwand zu Grund gelegt hatte. Während wir mit dem Papste sprachen und ihm mittheilten, dass draussen auf dem Flur alle unsere Sachen stünden, ruhte das Auge des Malers unausgesetzt auf dem Antlitze des Papstes, um sich jede Linie, jeden Ausdruck unauslöschlich einzuprägen.
Mit grösster Bereitwilligkeit willfahrte der Heilige Vater unserer Bitte, alle unsere mitgebrachten Sachen in sein Arbeitszimmer, die Bibliothek, bringen zu lassen, damit dort Alles in der in Aussicht genommenen Weise vor sich gehen könnte. Als der dienstthuende Kammerherr, Monsignor Misciatelli, meldete, Alles sei an Ort und Stelle, lud uns der Heilige Vater ein, ihm zu folgen.
Nachdem der Maler sich mit raschem Blicke über das einfallende Licht vergewissert hatte, setzte er einen Sessel zurecht und bat um die Gnade, dass seine Heiligkeit darin Platz nehmen möchten. ,Ben volentieri‘, recht gerne, antwortete der Papst und dann begann Reich gleich seine geräuschlose, aber jeden Nerv anspannende Arbeit. […] Gerade wollte Monsignor de Waal nähere Angaben über das bisher Erreichte machen, als der Obersthofmeister Monsignor Bisleti eintrat und meldete, dass die kleine Pilgerschaar der Arbeitgeber aus Frankreich und Belgien, les Patrons du Nord, im Thronsaale aufgestellt sei. Der Heilige Vater sah dann auf seine Uhr und erhob sich schnell, als er sah, dass die Zeit unter dem Sprechen so schnell verflossen war. Er trat dann vor die Staffelei, prüfte das Geschaffene und sagte mit bezaubernder Liebenswürdigkeit zum Maler, er glaube, dass das Bild recht werde. ,Kommen Sie morgen früh‘, fuhr der Heilige Vater fort, ,von 8 bis 9 Uhr zu einer zweiten Sitzung. Lassen Sie nur Alles stehen und liegen, wie es ist; es wird Niemand daran rühren. […] Am Dienstag den 9. Februar 1904 fanden wir uns pünktlich in der päpstlichen Anticamera ein und wurden nach kurzem Warten zum Heiligen Vater in die Bibliothek geführt. […] Mittlerweise war der Maler mit seinen Vorbereitungen fertig geworden, und so konnte sich Pius gleich in den ins richtige Licht gerückten Sessel setzen. Die künstlerische Tüchtigkeit des Malers muthete dem Papste nicht zu, in einer und derselben Stellung unbeweglich zu verharren, so dass die lebhafte Unterhaltung die Arbeit Reichs nicht störte. […]

Damit stand der Papst auf und trat vor die Leinwand. Der mittlerweile fein ausgearbeitete Kopf erregte seine vollste Zufriedenheit, die er dem Maler in recht schmeichelhafter Weise zum Ausdruck brachte, indem er sagte: ,Wenn die Atelierarbeit beendigt sein wird, können Sie später zu einer weiteren Sitzung kommen, um die letzten Lichter aufzusetzen. Für heute wollen Wir die Sitzung beendigen. […] Für dieses Bild des Malers Reich des Papstes bin ich Modell gestanden. Da mir der Talar des Papstes so ausgezeichnet passte, als ob er mir eigens angemessen worden wäre, so konnt4e ich den Wunsch des Malers Reich nicht abschlagen, ihm einige Sitzungen zu bewilligen, bis die Gewand-Arbeiten erledigt waren. Es war sehr drollig, sich selbst in der päpstlichen Kleidung zu sehen; aber ich hatte das Gefühl, dass ich um nichts in der Welt mit einem solchen Gewand auch die ungeheure Verantwortung und die gewaltigen Sorgen des Amtes übernehmen möchte. Ich schlüpfte darum mit heimlicher Freude stets wieder in meinen schwarzen Talar hinein, wenn die Sitzungen beendigt waren“. (AAV Carte Baumgarten)