von Christopher Helbig

Aus dem Herbst 1968, diesem Jahr der Umbrüche und Revolutionen, ist ein Brief überliefert, den Ida Friederike Görres an den Benediktinerpater Paulus Gordan schrieb. Sie berichtet mit Begeisterung davon, dass sie nach der Lektüre der „Einführung in das Christentum“ in Joseph Ratzinger ihren langersehnten, persönlichen Propheten gefunden habe.

Mit geradezu pathetischer Wortwahl und begründeter Weitsicht bemerkt sie über den jungen, damals in Tübingen lehrenden Theologieprofessor: „Das ist genau das Ersehnte: echte Fülle des Wissens, unbestechliche scharfe Denkkraft, lauterste Wahrhaftigkeit und dabei selber einer der Jungen… Er könnte das theologische Gewissen der deutschen Kirche werden… Dass es sowas im Nachwuchs gibt, ist doch höchst erfreulich… Dabei fehlt jede Polemik bei ihm, alles ist klare positive Aussage… Möge Gott uns diesen Vorkämpfer der alten und neuen Kirche erhalten.“
Es ist gewiss kein leichtes Unterfangen darüber zu urteilen, ob Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. diesen hohen Erwartungen Ida Friederike Görres‘ gerecht geworden ist, erst recht nicht heute nur wenige Tage nach dessen Ableben. Wie es sich für das Wesen der Geschichtsschreibung ziemt, so bedarf es eines gewissen zeitlichen Abstandes für eine umfassende Beurteilung einer solchen Jahrhundertpersönlichkeit und ihrer langfristigen Weichensetzungen. Wenn in einigen Jahrzehnten kirchliche und weltliche Historiker sich der entsprechenden Archive annehmen werden und ihre Akten ausgewertet haben, dann dürfte eine solide Beantwortung dieser Frage einigermaßen angemessen erscheinen. Als jemand im Jahr 1989 Geborener, der das Pontifikat Benedikts XVI. unmittelbar erlebt und sich als Promovend der katholischen Theologie derzeit selber anschickt, einen wichtigen Teil der Theologie Joseph Ratzingers zu erforschen, steht es mir dagegen heute schon zu, einige Gedanken niederzuschreiben, die sich mir in den vergangenen Jahren besonders erschlossen haben. Es sind persönliche Gedanken eines Menschen, der auf Grund seiner wissenschaftlichen Arbeit mittlerweile das gesamte theologische Werk dieses Mannes gelesen hat und der es nicht verschweigt zu behaupten, dass er sich von Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. immer wieder inspiriert fühlt.
Als Ida Friederike Görres ihre eingangs zitierten Zeilen zu Papier gebracht hat, hätte sie es wohl kaum für möglich gehalten, dass ihr persönlicher Prophet etwa vier Jahrzehnte später als Nachfolger Petri unter der wiedererrichteten Kuppel des Reichstagsgebäudes in Berlin vor den gewählten Volksvertretern eines vereinten Deutschlands eine Rede über die Grundlagen des Rechts und des freiheitlichen Rechtsstaates halten wird. Hätte sie diesen einzigartigen geschichtlichen Moment jedoch selber miterlebt, dann hätte sie sich in ihren Einschätzungen von damals sicherlich wiedergefunden. Mir selbst drängte sich dieser Gedanke auf, als mir vor längerer Zeit Görres‘ Worte zum ersten Mal unter die Augen kamen. Ihre Worte erschienen mir, als könnten sie genauso gut im Anschluss an die Rede des Papstes vor dem Deutschen Bundestag geschrieben worden sein. In dieser 2011 gehaltenen Rede tritt in beispielloser Deutlichkeit ein Wesenszug Joseph Ratzingers hervor, den Görres treffend auf den Punkt gebracht hat, der aber in der Vergangenheit öffentlich viel zu wenig Beachtung und vor allem zu wenig Würdigung gefunden hat: das Fernlassen jeglicher Form von Polemik und seine durchweg positiv verfassten Aussagen.
Benedikt XVI. unterließ es in Berlin auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen hinzuweisen, die aus Sicht der katholischen Glaubenslehre als Irrwege bezeichnet werden müssten. Anlässe dazu hätte es in der Heimat des Papstes freilich genügend gegeben. Statt der von vielen erwarteten oder insgeheim gar erhofften Anklagen, von denen sich manch einer von inner- und außerhalb der Kirche in seinem Ratzinger-Bild bestätigt gefühlt hätte, referiert er ausgehend von der Heiligen Schrift über die europäische Rechtskultur, ihrer Entstehung und ihrem noch heute innewohnenden Potential für die Zukunft des Kontinents. Er lädt ein zu einem öffentlichen Diskurs, sich der Begründung des Rechts zu vergewissern, um so „wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden“. Für viele Zuhörer war es eine seltsame Überraschung als Benedikt XVI. plötzlich auf die ökologische Bewegung der 1970er Jahre zu sprechen kam und sie in ihren Anliegen grundsätzlich würdigte. Der darauf einsetzende Applaus aus der Fraktion der Grünen und die Heiterkeit, die er durch seine Beteuerung, keine Werbung für eine bestimmte politische Partei machen zu wollen, im ganzen Haus hervorrief, waren gewiss wohl gesetzte Pointen. Völlig fehl würde man gehen, in dieser Szene auch nur den Hauch von Schmeichelei erkennen zu wollen. Für Benedikt XVI. stand die Suche nach der Wahrheit immer im Mittelpunkt, die nicht zu verhandeln ist. Es waren die Prüfsteine der menschlichen Vernunft und der biblischen Offenbarung, von denen aus er die Möglichkeit eines sinnvollen und fruchtbaren Dialogs erwartete. Aber er wusste um das vielfältige menschliche Ringen um Wahrheit außerhalb des katholischen Lehrgebäudes. Er achtete und anerkannte dieses Bemühen – auch bei denjenigen Gruppierungen etwa, die mit ihrer Politik einen gesellschaftlichen Wandel vorangetrieben haben, der den katholischen Wertvorstellungen in so manchem Punkt diametral entgegenläuft.
Benedikts Rede offenbarte der Öffentlichkeit das Denken eines Kirchenmannes, der sich zu Recht des Titels „Konzilstheologe“ erfreuen darf. In lauterster Absicht hatte er sein Leben einer Theologie gewidmet, in der Jesus Christus Ausgangs- und Endpunkt aller Überlegungen ist. Die Einzigartigkeit Jesu aus dessen Gottessohnschaft hatte er niemals geschmälert, ebenso wenig das Wesen der Kirche als Vermittlerin der göttlichen Gnade, die traditionelle Begründung der Moral. Auf das Wagnis des Zweiten Vatikanischen Konzils, außerhalb der eigenen Horizonte Wahres und Gutes erkennen zu können, konnte er sich vor diesem Hintergrund ohne Schwierigkeiten einlassen. Er verstand es ein Werk zu erarbeiten, das in bejahender und positiver Aussage wahrhaft Brücken zur Welt zu bauen versuchte. An Kritikern wird es dessen ungeachtet freilich nicht fehlen, die auf den „Panzerkardinal“ und seine „Aburteilungen“ als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre verweisen werden. In der Rolle, die ihm Papst Johannes Paul II. 1982 zugewiesen hatte, waren viele unpopuläre Entscheidungen zu treffen, die ihm in vielen Kreisen dauerhaft den Ruf einbrachten, sich einem unversöhnlichen Kampf gegen die Moderne verschrieben zu haben. Dessen rhetorischen Gipfel werden viele mit dem Schlagwort von der „Diktatur des Relativismus“ identifizieren, vor der Kardinal Ratzinger am Vortag seiner eigenen Wahl zum Papst eindringlich warnte. Während es angesichts der feinsinnigen Persönlichkeit Joseph Ratzingers – Benedikts XVI. überhaupt fraglich ist, von einem Kampf zu sprechen, den er gegen den Relativismus geführt haben soll, so wäre es um einiges lehrreicher der Frage nachzugehen, was denn der Antrieb für diese seine Haltung gewesen sein mag.
Ich würde sagen, sein unbeirrtes Auftreten gegen den Relativismus war im tiefsten vom Willen zur Versöhnung geleitet, die nur in und um der Wahrheit wegen möglich ist. Es braucht keiner besonderen Auflistung der vielen gescheiterten Ideologien, die die Menschheit allein nur im vergangenen Jahrhundert durchzustehen hatte. Sie hatten die Menschheit nicht nur gespalten, sondern am Ende die Würde eines jeden Menschen selbst in Frage gestellt. Auf der Grundlage von Ideologie ist Versöhnung nicht möglich. Ideologie genügt allenfalls, für eine gewisse Zeit lang ein Stillschweigen zu verordnen. Aber auch dieses wird letztlich immer in den großen Sturm führen, sobald sich aus der trügerischen Ruhe nach und nach die Stimmen vieler erheben, die über den Horizont der billigen Antworten hinausblicken. Versöhnung kann nur dem gemeinsamen Streben der Menschheit nach Erkenntnis um die letztgültige und höchste Wahrheit entspringen, die den Menschen von der Versuchung befreit, sich selbst und die anderen, ja die ganze Welt erlösen zu können. Von dieser Erkenntnis hatte sich Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. sein Leben lang leiten lassen. Im Bewusstsein um den Ernst dieser Erkenntnis hatte er den Dialog mit der Welt gesucht, nicht indem er bekämpfte, sondern indem er einlud. Indem er der Welt zutraute in der Kraft der Vernunft zu jener Versöhnung zu finden, die nicht menschengemacht, sondern beständig ist. Diese Einladung wird mit seinem Ableben nicht abreißen, sondern in seinem uns hinterlassenen Werk fortbestehen.
Und damit schließt sich zugleich der Bogen, weshalb es heute dieses Nachrufs aus der Feder eines Zeitzeugen bedarf. Angesichts der vom Pluralismus getragenen Gesellschaft, die sich der Herausforderung des immer stärker um sich greifenden Populismus und neuen Ideologien zu stellen hat, angesichts einer Theologie, die sich im Klein-Klein törichter Lagerkämpfe zu verlieren scheint, stellt sich die Wahrheit als das derzeit fragilste Element in der Welt und in der Kirche dar – mit allen ihren Konsequenzen. Die Impulse des „Gewissens der deutschen Kirche“, von dem Ida Friederike Görres sprach, und des „Versöhners um der Wahrheit wegen“, von dem ich heute spreche, können und mögen dabei helfen, diesen Herausforderungen unserer Zeit entschlossen entgegenzutreten. Zum Gelingen dessen hat Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. reichlich getan. Seine Hand zur Versöhnung hat er nie zurückgezogen. Er möge ruhen in Frieden.