Klugheit und Souveränität – zum neuen Vatikanbuch von Jörg Ernesti
Von Ignacio García Lascurain Bernstorff
„Innerhalb der vatikanischen Mauern, zwischen Petersdom und Audienzsäle, liegt der extraterritoriale Campo Santo Teutonico, der deutsche Friedhofmit zugehöriger Kirche, einem Studienkolleg für Priester und dem römischen Sitz der Görres-Gesellschaft.“ Dieser Satz stammt aus dem neuen Buch des Augsburger Kirchenhistorikers Jörg Ernesti "Der Vatikan. Geschichte, Verfassung, Politik", das kürzlich in der beliebten Reihe C. H. Beck Wissen erschienen ist (S. 48f).
Das kleine orangefarbene Bändchen, fast im gleichen Ton wie die Della Rovere-Medici-Gelbstreifen in der Uniform der Schweizergarde auf dem Cover, ist zum Heiligen Jahr erschienen (S. 65, 82) und gewinnt durch den Pontifikatswechsel unmittelbar nach dem österlichen Urbi-et-Orbi (S. 30, 32, 67) eine enorme Aktualität. Das 125-seitige Büchlein, das sich ideal für eine Reise in die Ewige Stadt eignet, stellt den Vatikanstaat als Garant und Bedingung der päpstlichen Souveränitätsbestrebungen dar (S. 8, 25, 121), der in den ersten Jahrzehnten zwischen 1929 und 1949 durch die Klugheit päpstlicher Entscheidungen überhaupt existieren konnte (S. 15, 19).
Das Buch ist in zehn Kapitel und einem Resümee gegliedert, von denen die ersten vier, das sechste und das siebte Kapitel dem Vatikan im engeren Sinne gewidmet sind, während die anderen sich mit dem Heiligen Stuhl befassen. Die Feststellung, dass der Souveräne Malteserritterorden als Völkerrechtssubjekt die Vorlage für die Konzeption des seit Februar 1929 bestehenden Vatikanstaates bei gleichzeitiger Existenz komplexer interinstitutioneller Beziehungen lieferte (S. 16, 44), verweist auf ein anhaltendes Forschungsdesiderat in mehreren Disziplinen. Im Lichte der Auffassung von einer funktionalen und endgültigen Souveränität des Vatikans wird die führende Rolle des Staatssekretariats hervorgehoben (S. 34, 107).
Ein Mehrwert dieses Bandes ist die Betonung der Bedeutung von Giuseppe Momo (1875-1940) als dem eigentlichen Architekten jener Teile des Vatikans jenseits des Museumskomplexes und des Petersdoms, die dem gewöhnlichen Vatikan-Touristen oder -Pilger verwehrt bleiben (S. 23, 37, 46, 51f., 63, 75, 79f., 87), der etwa so oft erwähnt wird wie Michelangelo und nur weniger als Pius XI. Ratti und Paul VI. Montini. Der flüssige und ungezwungene Ton des Textes sorgt für eine unbeschwerte Lektüre.
Der Autor lässt er bei manchen Themen seiner ganz persönlichen Meinung freien Lauf, manchmal auf undiplomatische Weise: Die Kritik an der China-Politik des Heiligen Stuhls und die Bewertung der Ernennung von Erzbischof G. Gänswein als Beispiel des promoveatur ut amoveatur (S. 42), und seine Einschätzung des Palazzo di San Callisto in Trastevere (ein prächtiges Beispiel futuristischer Architektur) als „zweckmäßig, allerdings nicht besonders schön“ (S. 52) mögen Anstöße für künftige Gespräche oder gar Forschungen geben. Dies gilt besonders für die polemische Feststellung von Grundmängel der Kurie, bei denen der Verfasser (leider) sich auch besonders negativen stereotypen Italiens und seiner Bewohner bedient (S. 118), was in ihrer Schärfe an entsprechende Traktate aus der Frühen Neuzeit erinnert.
Vielleicht liegt gerade im Grundton des Buches – der Vatikan als Verwirklichung der funktionalen Souveränität zu präsentieren – eine natürliche Neigung zur kritischen Auseinandersetzung mit spannungsbeladenen Aspekten seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Nationales und Internationales, Weltliches und Geistliches zu vereinen. Insofern fügen sich die polemischen Passagen am Ende des Buches, dessen Cover bezeichnenderweise mit einem Bild der Soldaten des Papstes geziert ist, gut in einem Narrativ, das fast am Ende den Titel „Die offene Flanke: Die Frauenfrage“ trägt, die aber bezeichnenderweise ein in den Augen des Autors sehr positives Bild auf die Kurie wirft (S. 119).
Es ist zu begrüßen, dass in einem Heiligen Jahr die dreißigjährige Beck-Wissen-Reihe mit einem längst hinfällig gewordenen Titel zum kleinsten Staat der Welt ergänzt wird.
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- Geschrieben von: Stefan Heid
- Kategorie: Leseempfehlungen